Jakob Lorber: 'Die drei Tage des 12-jährigen Jesus im Tempel'

5. Kapitel: Die Rede des Obersten der Synagoge von Bethlehem und Jesu Antwort. Der mißlungene Störungsversuch des alten stolzen Pharisäers.

   01] Hierauf wandte sich der Oberste an Mich und sagte: »Nicht wahr, du willst alle die Daten und Erscheinungen
jener denkwürdigen Geburt zu Bethlehem von uns genauest erfahren?«
   02] Sagte Ich: »Oh, damit kannst du dir auch gar fein die Mühe und Arbeit ersparen, denn alles ist Mir so getreu und wahr bekannt wie keinem von euch! Ich will von euch nach alledem, was sich damals in Bethlehem zugetragen hat, nur erfahren, ob und in welchem Zusammenhang ihr das mit den Aussagen aller Propheten findet, und namentlich mit den Aussagen des Jesaias. Um das handelt es sich und um sonst gar nichts, Meine Ältesten!«
   03] Spricht der Oberste aus Bethlehem: »Ja, du mein lieber, holder Junge, siehe, du verlangst da Dinge von uns, die wir dir sehr schwer oder auch gar nicht zu geben imstande sind!
   04] Es ist schon wahr, daß zwischen den Aussagen des Propheten Jesaias und jener vor zwölf Jahren zu Bethlehem erfolgten Geburt in einem Stalle - eines auch von einem Propheten bezeichneten Ortes - eine Art Zusammenhang unfehlbar zu suchen und eben auch nicht unleicht zu finden ist; aber, mein Lieber, wieviel (Ähnliches) mag schon seit den Zeiten des Propheten Jesaias dagewesen sein, und noch ist von einem Emanuel leibhaftig keine Spur!
   05] Judäa war sozusagen schon mehrmals königlos, und so manche Jungfrau gebar bei Bethlehem in irgendeinem Stall ein Knäblein, und manchmal sogar unter - obschon nur zufällig - großer Zeremonie, die aber nur als ein Naturereignis für sich allein dastand.
   06] Schwache und abergläubische Menschen unter Zutritt gewinnsüchtiger Magier aus Indien und Persien, und Sterndeuter, an denen es bei uns noch nie einen Mangel gab, haben so etwas zu benützen gewußt. Mit den Sagen der Propheten vertraut, benutzten sie stets solche besonderen Gelegenheiten und verkündeten den blinden Juden mit ernsten Prophetenmienen, wie nun ihr erhoffter Messias unfehlbar zur Welt geboren worden sei.
   07] Aber die Zeit, die unerbittliche Zerstörerin aller menschlichen Werke und Sagen und Dichtungen, hat die Nachkommen stets wieder eines andern und Bessern belehrt. Alles versank in die bodenlose Tiefe der stets größeren Vergessenheit, und auf uns kam nichts Weiteres als eine eitle Sage in einer möglichst großen Verwirrtheit! Die Aussagen der Propheten sind mystische Bilder, an denen die Menschen noch Hunderte von Jahren nagen werden; aber schwerlich wird ein Volk zu einer Lösung auf dieser Erde gelangen.
   08] Und siehe, du mein holder Knabe, ebenso steht es mit der vor zwölf Jahren erfolgten wunderbaren Geburt zu Bethlehem als dem mir nur zu wohlbekannten Orte, der eben darum, weil ihn die Propheten so ausgeschrien haben, stets von allerlei Magiern, Sehern und Sterndeutern umschwärmt wird, ob sich dort nicht etwa irgend etwas ereignen würde, das sie zu ihrem Nutzen ausbeuten könnten. Die Geburt vor zwölf Jahren war ein Hauptwasser auf ihre trocknen Felder.
   09] Die drei Magier aus Persien haben um ihre der Jungfrau dargebrachten Geschenke mir wohlbewußtermaßen eine Menge Schafe, Kälber, Kühe und Ochsen zum Gegengeschenk von den Hirten bekommen und haben ihre Reise sicher nicht umsonst gemacht. Doch nun sind erst zwölf Jahre seither (verflossen), und schon gedenkt kein Mensch mehr jener Geschichte!
   10] Daß du uns aus dem Schwärmerland Galiläa diese Geschichte wieder vorbrachtest, wundert mich nicht im geringsten, denn Galiläa war ja stets das Land der Schwärmerei, aus welchem Grunde es auch schon von den Alten als ein Land bezeichnet wurde, aus dem nimmer ein wahrer Prophet kommen kann.
   11] Damit, mein holder Junge, glaube ich auch deine sogenannte Vorfrage ganz beantwortet zu haben! Es kann wohl sein, daß einstens einmal Jehova den jetzt sehr bedrängten Juden einen Helden erweckt, der sie wieder zu einem freien Volke erheben wird; aber dazu ist eben jetzt nach der ganz natürlichen Lage der Dinge nicht die geringste Aussicht vorhanden.
   12] Wie müßte ein Held etwa aussehen, und von woher müßte er gekommen sein, der es mit der ungeheueren Macht der Römer aufnehmen könnte?! Das kann vielleicht in tausend Jahren einmal geschehen, wenn zufällig alle anderen Weltgroßmächte, gleich auch Rom, locker und schwach werden - aber jetzt ist dazu wohl noch lange keine Aussicht vorhanden, und deine berührte Vorfrage geht da offenbar ins Blaue der Luft über, was soviel sagen will als: sie handelt vom Nichts und geht auch ins vollkommene Nichts über. - Bist du nun endlich im klaren mit der Vorfrage?«
   13] Sagte Ich: »Ja, ja, so du alles nach dem diesweltlichen Maße nimmst, da magst du recht haben. Aber hier ist nur ein geistiges Maß anzunehmen, von dem du aber keinen Begriff zu haben scheinst, und so hast du Mir mit deiner ganzen, erfahrungsreich sein sollenden Rede am Ende in bezug auf Meine Vorfrage dennoch soviel wie gar nichts gesagt!
   14] Denn so der Messias kommen wird, wird er kein materielles, sondern nur ein geistiges Reich auf Erden gründen, und dieses Reiches wird kein Ende sein in Ewigkeit, wie solche auch der Prophet Jesaias von dem kommenden Messias geweissagt hat.
   15] Was ist aber ein geistiges Reich auf Erden? - Das ist kein Reich mit einem äußerlichen Schaugepränge, sondern das muß inwendig im Menschen sich offenbaren, und ein Mensch, der in dieses wahre Gottesreich auf Erden unter den Menschen gelangen wird, der wird sein ein wahrhaft lebendiger und wird den Tod nicht sehen noch fühlen und schmecken in Ewigkeit, wie solches David, Daniel und Jesaias geweissagt haben.
   16] Wenn es sich mit dem verheißenen Messias nun also und niemals anders verhalten kann, wie und aus welchem Grunde sollte denn jene überaus wunderbare Geburt zu Bethlehem ganz so bedeutungslos dastehen?!
   17] Gott hat jenes Kind wunderbar vor der mörderischen Hand des Herodes beschützt, und es lebt heutzutage, freilich höchst zurückgezogen, und steht, wo es sein muß, in einer allen Elementen gebietenden Kraft da, wie solche nur einem Gott möglich sein kann. Niemand kann sich vor Ihm verbergen; verbirgt es sich aber vor den anderen Menschen, so ist es aber dann niemandem möglich, es eher zu finden, als es sich ganz freiwillig finden läßt.
   18] Es hat nie Lesen und Schreiben gelernt, und dennoch gibt es keine Schrift in der Welt, die es nicht lesen könnte, und schreibt in allen Zungen und ist bewandert in allen Künsten, die nur irgend in der Welt vorhanden sein können, und hat eine Kraft, vor der die Berge zittern und die mächtigsten Zedern ihre Häupter bis zur Erde herab beugen, und selbst Sonne, Mond und Sterne scheinen zu gehorchen seinem Willen! - Was Ich hier sage, ist keine Übertreibung, sondern eine ganz buchstäbliche Wahrheit!
   19] Wenn aber genau also und nicht anders, da meine Ich denn doch, daß er von eurer Seite der Mühe wert wäre, euch näher danach zu erkundigen und darüber nachzusehen in den Propheten, ob die Weissagung den Jesaias nicht übereinstimme mit den bewußten Eltern des Kindes, mit dem Kinde selbst, mit seiner Geburt, mit dem Geburtsorte, mit der Zeit, mit seinem jetzigen Aufenthalte und mit so manchen Zeichen, die es schon bis jetzt von sich gegeben hat!
   20] Diese an sich gewiß nicht unwichtige Sache sollte von euch Priestern, Weisen, Schriftgelehrten und Ältesten des Volkes doch nicht ganz so unbeachtet bleiben, da ihr doch jene Stellen im Volke bekleidet, von denen das Volk die offene Kundgabe der Ankunft des ihm verheißenen Messias allein und mit allem Rechte zu erwarten hat. - Ich rede um Mein teuer erkauftes Recht, und es steht niemanden zu, Mich schweigen zu heißen! Da steht der römische Richter, dem allein ein solches Recht zusteht!«
   21] Ich würde diese Berufung an den Richter nicht gemacht haben, wenn Mich im Flusse Meiner Rede nicht ein alter, gar stolzer Pharisäer zu schweigen ermahnt hätte, daß dies Dinge wären, über die ein naseweiser Sauhirte aus Galiläa durchaus nicht zu urteilen habe.
   22] Aber der Richter, der ganz auf Meiner Seite war, verwies ernstlich dem Pharisäer seine Grobheit und gebot ihm, mit solch einer gemeinen Herrschsprache in seiner Gegenwart nicht mehr zum Vorschein zu kommen. Denn Meine Kundgabe über den bei Nazareth wohnenden Wunderknaben sei wichtiger auch für die Römer, als ihr ganzer abgenützter und schon sehr fadensichtig gewordener Judenkram. Er sagte den Pharisäern trocken ins Gesicht:
   23] »Eure Lehre bedarf wie keine auf der weiten Erde einer gänzlichen Reformation, sonst hält sie sich wahrlich keine fünfzig Jahre mehr! Denn wie eure Gotteslehre und euer Gottesdienst nun bestellt sind, da sind Roms Bacchanalien eine wahre Sonne dagegen, obwohl sie als eine Verehrung eines höheren Gottwesens als eine wahre Mißgeburt des Menschenverstandes dastehen!
   24] Du, holder Knabe, aber rede nur ganz beherzt weiter! Es darf dir kein Leid zugefügt werden, denn in dir scheint mehr Verstand zu sein als in diesem ganzen Tempel! Daher nur fortgeredet, mein holder Knabe!«


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